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Süddeutsche Zeitung vom 25.7.2003

Vor und hinter dem Vorhang

Dimiter Gotscheff inszeniert Beckett in Bregenz

Samuel Beckett passt zu den Bregenzer Festspielen ungefähr so, wie Wladimir und Estragon zu einer Autobahn-Raststätte passen würden, also perfekt. Fünfzig Jahre nach der Uraufführung von "En attendant Godot" stehen selbst Clochards nicht mehr gern auf Landstraßen herum. In Bregenz hat man für Beckett neben dem eher volkstümlichen Festspielhaus eine puristisch schwarzwandige Werkstattbühne errichtet, die man so selbstbewusst unter dem Slogan "Weg vom bürgerlichen Vorhangtheater" präsentiert, als seien derartige Aufführungsorte eben erst erfunden worden. Seit drei Jahren ist die experimentelle Sektion des Hamburger Thalia Theaters dort gern zu Gast, und wie es der Zufall oder der agile Aktualitätssinn will, hat die Beckett-Inszenierung von Dimiter Gotscheff, die am Bodensee in Nachbarschaft zum Ground-Zero-Bühnenbild der "West Side Story" gezeigt wurde, ihre Hamburger Premiere am 11. 9.

Nichts hätte näher gelegen als ein goldener Jubiläums-Godot, aber so einfach hat es sich Gotscheff nicht gemacht. Sein kompliziertes Projekt trägt gleich drei Titel: "Nacht und Träume", "Der Verwaiser" und "Beckett. Lesen". In einer Situation, die der Beckett-Szene "Nacht und Träume" atmosphärisch abgelauscht ist, lesen, untersuchen und spielen sechs Schauspieler die Prosadichtung "Der Verwaiser", eines der eigenartigsten Werke des großen Radikalen, unter dem französischen Originaltitel "Le Depeu-pleur" 1970 vollendet und seither ein gefundenes Fressen für Beckett-Exegeten der metaphysisch-philosophischen Couleur. Der englische Titel "The Lost Ones " deutet an, worum es geht: Eine Endzeit-Gesellschaft von Verlorenen, Verlassenen, Versprengten, zweihundert an der Zahl, ist eingeschlossen in einem großen Zylinder, an dessen Innenwänden diverse Leitern zu Nischen und Tunneln, jedoch nicht ins Freie führen. Die Insassen teilen sich in "Nichtsucher" und solche, die den Ausweg suchen. Struktur und Organisation des Zylinders, Bewegungen und Rituale folgen einem präzisen Reglement - bis alles[in Stillstand erstirbt.

Dantes "Purgatorio" und "Inferno" sind gegenwärtig, aber auch mannigfaltige Echos anderer Lektüren und früherer Beckett-Arbeiten; eng verwandt sind die etwa gleichzeitig entstandenen Prosastücke "Imagination morte imaginez" und "Bing". Es mag intellektuelles Vergnügen bereiten, dem Pfad der Verweise zu folgen; man kann darüber streiten, ob es sich um Formalismus oder um eine Allegorie handelt, aber wie stets bei Beckett müssen alle Bemühungen um eine Fixierung auf Begriffliches ins Leere laufen - wer Sinn sucht, bleibt verwaist zurück. Dimiter Gotscheffs Idee, den "Verwaiser" als gigantische Szenenanweisung für ein unspielbares Stück aufzufassen, leuchtet deshalb ein: Er lässt die Schauspieler den Text zerlegen, untersuchen, lässt sie sich ihn anverwandeln, aufbrechen, ein polyphones Stimmengeflecht daraus destillieren, unterstützt von der teils jazzigen, teils minimalistischen Klaviermusik Philipp Haagens.

Das alles besitzt innere Logik und Konsequenz, und dennoch hat das Verfahren nach knapp zwei Stunden seine eigene Unangemessenheit enthüllt. Becketts Rätsel-Zylinder ist nur aus Sprache gebaut, aus einer bis ins kleinste Detail durchgeformten, glasklaren und zugleich irritierenden, oft quälenden Prosa, die, wenn man sich ihr überlässt, wie eine Zen-Aufgabe das Denken ganz zur Ruhe bringen kann; im Zustand einer inhaltslosen, wachen und durchaus heiter stimmenden Transzendenz. Um ihre Wirkung zu entfalten, müsste diese Sprache von Zutaten rein gehalten werden: Alles Deklamieren, Skandieren und Parodieren, Verfremden, sogar jede Spur einer individuellen Diktion schwächt den Effekt, ganz zu schweigen von launigen Kostümierungen und clownesken Kunststückchen. Die Bananen, eine Anspielung auf den alten Krapp, sind ebenso überflüssiges Accessoire wie das Manuskript-Blatt mit dem Monolog des Locky, das riesenhaft an der Bühnenwand erscheint: Alles passt irgendwie und lenkt doch von der Essenz des Textes ab, der hier erkundet werden soll.

Sollte diese Erfahrung indes beabsichtigt sein und zu Gotscheffs Konzept gehören, ziehen wir vor ihm den Hut, der als Requisit hier dankenswerterweise nicht auftaucht. Und für die fernere Zukunft fordern wir: Beckett auf die Seebühne! KRISTINA MATDT-ZINKE
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zuletzt aktualisiert am 20.4.2006