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Voralberger Zeitung vom 25.7.2003

Ein zerrissenes Bild

Am Mittwoch fand auf der Werkstattbühne die Premiere der Thalia-Produktion "Der Verwaiser" von Samuel Beckett statt. Ein zwiespältiger Eindruck.

Man hat Beckett und dem Publikum nicht wirklich etwas Gutes damit getan, diesen eher unbekannten Prosatext des irischen Nobelpreisträgers auf die Bühne zu bringen. "Der Verwaiser" (englisch "The Lost Ones") ist eine Bild- und Zustandsbeschreibung des Innenlebens eines Zylinders, in dem sich zweihundert Körper befinden. In diesem geometrischen Körper mit 50 Metern Umgang und 16 Metern Höhe befinden sich verschiedene Gruppen: die Kletterer, die Suchenden, einige Besiegte. Ein Ausweg lebt nur als Mythos in den Köpfen.

Bestehende Aktualität

Für den Regisseur, den gebürtigen Bulgaren Dimiter Gotscheff, der fast zwanzig Jahre in der damaligen DDR gearbeitet und sie 1979 in Zusammenhang mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns wieder verlassen hat, ist "Beckett immer wieder eine Notwendigkeit". Nachvollziehbar, war Beckett doch in Bulgarien verboten und sind seine Werke geprägt von einer Ausweglosigkeit, einem alles lähmenden Zustand, in dem nicht mehr Individuen, sondern nur mehr eigenschaftslose Typen eine Welt bevölkern, wo nur mehr Schweigen eine Lösung zu sein scheint. Allerdings: Beckett hat auch jenen, die nicht in einem kommunistisch-totalitären Umfeld aufgewachsen sind, nach wie vor etwas zu sagen, seine Texte haben bisher die Zeiten überdauert und ihre Aktualität als Existensbeschreibungen nicht verloren.

"Der Verwaiser" aber wird durch diese Inszenierung zerstückelt und zerrissen, der reduzierte, klare und bildhafte Text verliert seine Prägnanz. Das Bild, das beim Lesen oder Hören im Hirn des Rezipienten/der Rezipientin erzeugt wird, kann durch die Inszenierung nicht ersetzt werden. Und darin liegt das große Problem.

Regie und Ausstattung sind sehr vorsichtig und respektvoll mit dem Text umgegangen, haben sich ihm mit minimalistischen und reduzierten Mitteln genähert und was die Leistung der sechs SchauspielerInnen betrifft, so kann hier nur von erstklassig gesprochen werden. Wenn man allerdings davon absieht, dass die Schauspielerin der ersten Szene von kaum einem Platz aus zu verstehen war und damit der Einstieg komplett fehlgeschlagen ist.

Starke Bilder fehlen in dieser Inszenierung zwar ebenso wenig wie der kompakte Gesamteindruck des Spiels - was fehlt, ist, dass der Text nicht greifbar gemacht wird, dass er in Brocken angeboten zerfällt. Und daran ändert auch der Mann am Klavier, Philipp Haagen, wenig, der äußerst genial den Bösendorfer zeitweise mit allerlei "musikfremden" Gegenständen bearbeitet und ein bestürzendes, aber überaus treffendes Klangbild erzeugt. Die Begeisterung des Premierenpublikums hat sich denn auch in Grenzen gehalten.

von Brigitte Kompatscher

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zuletzt aktualisiert am 20.4.2006