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Süddeutsche Zeitung vom 14.10.2003


Gott ist eine Tüte

Auf Augenhöhe mit der Endzeit: Andreas Kriegenburg inszeniert Dea Lohers "Unschuld" am Hamburger Thalia Theater



Der Ausländer Fadoul, ein illegaler Einwanderer vom Hochufer des Nils, hat in einer Plastiktüte 200 000 Euro gefunden. Für ihn ist das ein Gotteserlebnis: Gott schickt sich selbst in einer Tüte, und Fadoul fühlt sich nun berufen, etwas Großes zu tun, selbst als Gott zu wirken: "Etwas werde ich schaffen, das die Menschen nicht vergessen werden! Durch diese Tüte!" Fadoul beschließt, dem blinden Mädchen Absolut, das er an einer Bushaltestelle kennen gelernt hat, die Operation zu bezahlen, um ihr das Augenlicht zu schenken. Absolut ist Stripperin in einer Hafenkneipe. Sie glaubt absolut nicht an Gott, aber an die Wissenschaft. Doch die Operation misslingt, und der Gottesbeweis ist gescheitert.

Fadoul und Absolut sind zwei Unglücksmenschen aus Dea Lohers neuem Stück "Unschuld", das Andreas Kriegenburg am Hamburger Thalia Theater bravourös uraufgeführt hat. Es geht darin um große Menschheitsfragen und kleine Alltäglichkeiten, um alles, was unser Leben so unerträglich schwer und sinnlos macht - aber auch um die leise Hoffnung, dass es doch einen Ausweg gibt, einen Weg zumindest oder ein Ziel. "Unschuld" ist eine vielstimmige Theaterpassion über den Zustand der Welt, zusammengefügt aus lauter kleinen Einzelteilen. Da ist zum Beispiel Frau Habersatt (Verena Reichhardt), die sich jedesmal als Verbrechermama ausgibt, wenn mal wieder einer Amok läuft. Oder die traurige Rosa (Doreen Nixdorf), deren Franz sie nicht mehr anfasst, seit er im Bestattungsunternehmen Leichen wäscht. Und Rosas Mutter, die kranke Frau Zucker (Victoria Trauttmansdorff), die sich mit all ihren Restlügenträumen der Tochter "als Verantwortung" übergibt. Lauter Gerade-noch-Existenzen.

Liest man das Stück, muss man sich um Dea Loher ernsthaft Sorgen machen. Nicht, was ihre Qualität als Dramatikerin angeht - "Unschuld" ist ihr wahrscheinlich bester, dichtester, privatester und zugleich welthaltigster Text, eine poetische Elegie von sprachlicher Schönheit und Kraft, getragen von dunkler Wehmut ebenso wie von sarkastischem Grimm. Es ist auf den ersten Blick jedoch ein tieftrauriges Stück. Ein Selbstmörderdrama. Ein rabenschwarzer Todessehnsuchtstanz. So resignativ, dass man froh ist, die Autorin beim Schlussapplaus auf der Bühne unter den Lebenden zu sehen, richtig munter sogar, glücklich über den bejubelten Erfolg.

Das Erstaunliche an dieser Uraufführung ist, dass "Unschuld" wie eine Komödie daherkommt, wo es thematisch doch ein Untergangsstück ist, ein düsteres Novemberdrama. Es wimmelt darin von Leichen, Suizidkandidaten, Hochhausspringern. Und wer noch nicht gestorben ist, der hält sich gerade so über Wasser, ist blind oder illegal oder löst sich allmählich auf wie Frau Zucker mit ihrer Diabetes. Am Anfang geht eine Frau ins Wasser, am Ende auch. Elisio, ein schwarzer Einwanderer wie Fadoul, sagt: "Ich wäre gerne ein Rettungsschwimmer." Das ganze Stück über wird er von schweren Gewissensbissen geplagt, weil er die Ertrinkende am Anfang nicht gerettet hat.

"Eine Riesenkakerlake hockt auf seiner Leber und beweint die Welt", so beschreibt Frau Habersatt Elisios Seelenzustand. Der Satz ist ein bißchen kitschig, aber er erfasst sehr schön den Lupenblick der Autorin Dea Loher. Wo bei anderen allenfalls eine Laus über die Leber läuft, steigert sich bei ihr die Verstimmung in die Verbitterung und die Ursachenforschung ins Große, Allgemeine. Was nicht heißt, dass Dea Loher aus einer Mücke einen Elefanten macht. Sie zeigt die Welt ja nicht schlechter, als sie ist. Sie schaut durch ihr dramatisches Vergrößerungsglas nur genauer hin und nimmt mehr davon in ihre Stücke hinein, mehr vom Leid, vom Unglück, von der Gewalt und Trauer der Welt, als es unter den Autoren ihrer Generation üblich ist.

Dea Loher, Jahrgang 1964, ist sich als Dramatikerin immer treu geblieben, das macht ihre Stärke aus. Moden und Zeitgeist-Trends hat sie nie mitgemacht. Als das Pop- und Spaßtheater noch in voller Blüte stand, schrieb sie unbeirrt und, wie es schien, aus einem inneren Leidensdruck heraus Stücke über Inzest, Folter, Terrorismus, Schuld. Loher galt damit als die letzte oder vielleicht erste politische Autorin unserer Zeit, also immer ein wenig als Außenseiterin: düster, pessimistisch, problemorientiert. Jetzt, da der Hedonismus aufgebraucht und Pop ein Anachronismus ist, ist die Zeit ganz auf der Höhe von Dea Loher. Und Dea Loher, die Mutter Teresa der deutschen Dramatik, ist auf der Höhe ihrer Kunst.

Andreas Kriegenburg, der fast alle Loher-Stücke uraufgeführt hat, ist auch diesmal der ideale Regisseur. Wie er spielerisch alles Schwere leicht macht und aus dem Daseinsunglück der Figuren ein Theaterglück zaubert, ist eine inszenatorische Meisterleistung. Der Sprachvielfalt des Textes kommt er mit einer Vielfalt an virtuellen und visuellen Mitteln bei. Auf der Bühne von Julia Krenz ziehen die Schauspieler blitzschnell weiße Vorhänge auf und zu, so enstehen immer neue Räume, kreuz und quer. Die Vorhänge dienen aber auch als Projektionsfläche für Videobilder vom Meer oder den TV-Augenzeugenbericht eines Amoklaufs. Kriegenburg gelingt mit seinem Ensemble ein hochnotkomischer Balanceakt zwischen Tragödie und Farce, betonter Künstlichkeit und Realismus, feiner Ironie und tieferer Bedeutung. Leise, berührende Szenen, in denen Menschen sich näher oder zu nahe kommen, wechseln mit hinreißenden Slapsticknummern wie der, in der ein Selbstmörder-Duo nach einem kuriosen Endzeit-Dialog vom Hochhaus springt. Ein Höhepunkt ist die Szene, in der sich gestresste Autofahrer im Stau chorisch über einen Suizidwilligen aufregen, der sich von der Autobahnbrücke zu stürzen gedenkt: ein grandioses Schimpfkanonaden-Ballett zeitgeplagter Businessmenschen.

Kriegenburg hat wunderbare Schauspieler, ein Ensemble aus Verzweiflungskomikern. Hans Löw und Christoph Bantzer sind, mit ein bißchen Schuhcreme im Gesicht, die beiden schwarzen Immigranten: ein trauriges Komikerduo, das wie ein Stadtstreicherpaar durch das Stück spaziert und dei einzelnen Fäden teilweise zusammenführt. Claudia Renner spielt nicht nur die blinde Absolut, sondern wehmütig-schön auch auf dem Akkordeon. Und Angelika Thomas ist jene "alternde Philosophin" Ella, die jeden Glauben verloren hat: "Ich glaube nur noch an die Kontingenz. Die Zufälle, die Irrtümer, die Imponderabilien." Das Herzstück ihrer Theorie heißt: "die Unzuverlässigkeit der Welt". Ella hat darüber ein Buch geschrieben. Dea Loher ein Stück.

Christine Dössel
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zuletzt aktualisiert am 15.11.2005