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WELT vom 29.10.2005
SCHÖNE AUSSICHT VOM GIPFEL DER JAZZ-KRISE

Die Lange Jazznacht im Fundbureau spiegelt Stärken und Schwächen der Hamburger Szene und ihrer Protagonisten


Gäbe es so viele interessierte Zuhörer, wie es Widrigkeiten gibt im aufstrebenden Jazz Hamburgs, es wäre alles in bester Butter. Die jungen - und unverkennbar hungrigen - Musiker der Stadt hätten zu spielen, reichlich, sie hätten aneinander zu schaffen, an den deutlich differenzierten Spielpositionen und -ansätzen.

Dazu kämen die Widrigkeiten, an denen sich lernen läßt: die Probleme mit der Technik, die zu lösen in der Lage zu sein niemanden schädigt. Die Probleme mit der Raumakustik, die hier und dort eine kleine Abweichung von Spielroutinen verlangt, und zu guter Letzt das donnernde Geratter, wenn wieder ein Zug der Deutschen Bahn über Altonas Sternbrücke prescht.

Man könnte musikalisch darauf reagieren, es stört, wenn man es läßt. Störend ist auch, daß das Publikum spärlich bleibt, bei der jüngsten Ausgabe der langen Jazznacht im Fundbureau am Donnerstag abend. Störend sind die langen Umbaupausen zwischen den Sets. Geboten wurde dagegen: hohe Qualität.

Ein konventioneller Auftakt mit dem Quartett der beiden Saxophonisten Ralph Reichert und Lutz Büchner. Klare Fronten, die Solisten mit ihrem stürmischen Interplay, mit bewunderungswürdig virtuosen Kaskaden von Tönen, Arpeggien, Glissandi und so weiter hier, und dahinter die Backgroundfraktion mit ihrem kraftvollen Swing, dieser aufgebrochenen, fast wolkenförmigen Bewegungsenergie mit viel Beckensirren und spazierengehenden Baßtönen darunter. Wuchtiges Spiel auf felsenfest gesichertem, vor Generationen schon trockengelegtem Grund.

1957 etwa muß das gewesen sein, und das war in vielerlei Hinsicht ein guter Jahrgang. Doch wenn man sich heute auf den Errungenschaften von damals ausruht, sich mit den Überlieferungen des klassischen Jazz bescheidet, dann lappt das schon ins selbstzufrieden Saturierte. Bezeichnend, daß von den vier Protagonisten kein einziger sich auch nur für einen einzigen Takt der beiden anderen Bands interessierte. Die hingegen waren offenbar interessierter an den Dingen um sie herum. Und damit auch interessanter.

In seltsam verwilderte Klangwelten taucht das Trio "Chronique de notre vie" mit seinem reichhaltigen akustischen Instrumentenpark, in dem Tuba und Harmonium ebenso zur Verfügung stehen wie Cello und Saxophon. Und natürlich das präparierte Klavier, das im Fundbureau durch ein Keyboard und einen Computer ersetzt werden mußte. Fritz Feger und Philipp Haagen haben lange Zeit Bühnenmusiken für das Thalia Theater entwickelt, Lieven Brunckhorst spielte am Schauspielhaus, und sie haben völlig Recht, daß es schade wäre, wenn diese Musiken mit den Stücken verweht wären. Zu dritt haben sie sie nun konzertant umgesetzt, und das Ergebnis ist faszinierend. Immer wieder durchweht ein gestischer Duktus diese Musik, immer wieder lädt sie sich mit gebrochenen Klängen und gesungenen Worten, mit Assoziationsspielen, Andeutungen, Umdeutungen auf, und fällt nicht aus der Rolle. Jazz? Was für eine Frage. Gute Musik? Sicher, sehr vielschichtig, und hin und wieder wird auch ein wenig improvisiert.

Schließlich, zu guter Letzt, die Katharsis. Das Quartett des rührigen Saxophonisten Gabriel Coburger, das mit wilder Kraft über das eigene Programm herfällt und den Moment so raubauzig mit Energie füllt, daß man meint, das Fundbureau leuchten zu sehen. Ungestüm, unbändig, mitreißend, ganz und gar im Hier und Jetzt. Die Uhr rückt auf halb zwei, und die Zuhörer, die so langsam gehen wollten, wollen nun gar nicht mehr los. Diese Musik lebt, sie kämpft mit den Widrigkeiten, riskiert Ausfälle, Überraschungen, Reibungen und verwandelt sie in Wärme. Heute übernachten wir auf einer Wolke.

Stefan Hentz
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zuletzt aktualisiert am 1.11.2005