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"Hannoversche Allgemeine", 18.11.1999

Spuk der Ewigkeit

Eine "Nächtliche Andacht" nennen sie im Untertitel ihre Stunde mit Chansons von Jacques Brel. Nächtlich. Also muss es sich um etwas Leises handeln. Und Andacht. Nun, das Denken an jemanden, der so viel Gefühl vermitteln konnte, ist zweifelsohne eine nächtliche Andacht wert.

Brel. Also kein Stimmungsmacher, sondern einer, der Stimmung, Atmosphäre aufgespürt hat. Und das in Jahren, als unsere drei Andächtigen den flämischen Liedermacher höchstens im Kinderwagen und vom Mono-Plattenspieler ihrer Eltern kennen konnten. Als Brel 1978 starb, 49-jährig, hatte sich der erfolgreiche Chansonnier längst abgesetzt - in Richtung Südsee. Er wollte über seinen Lungenkrebs siegen und seinen Traum von der Kompromisslosigkeit leben.

Die bis unlängst fest in Hannover tätigen Musiker und Schauspieler Philipp Haagen, Nicolas Rosat und Alexander Simon bieten den Besuchern im voll besetzten Ballhof 2 ein Epitaph, nicht ehrfurchtsvoll, nicht respektlos. Einfach eine durch und durch sympathische Gedenkstunde. Natürlich werden Gitanes geraucht. Und das Feuer fürs Streichholz wird regelmäßig von der Schuhsohle gerieben. Das Ambiente lässt sich als abgeschabte Brüsseler Wohnzimmerkneipe beschreiben: mit mittendrin einem Flügel und zwischendurch üppig viel Bordeaux. Bei der Wahl des Weines fühlen sich nämlich auch Flamen etwas weniger flämisch.

Mit Brels Liedklassikern geschieht sängerisch überraschend wenig. Simon singt die suggestiven "Bonbons", die immer noch unendlich "bon" sind, Rosat "Les Feuilles Mortes", die schwermütige Kurzgeschichte von den welken Blättern, die zusammengefegt werden - wie Gedanken und Klagen. Simon lässt wieder Brels aufsässiges Vibrato aufbrechen, auch bei "Fernand". Freund Fernand begegnet uns nämlich in ziemlich pittoresker Form an diesem Premierenabend - als Asche. Ein verzweifeltes "Hatschi", und der ganze Spuk vom ewigen Leben wird zu Staub.

Armin Petras hat die Bizarrerien vom "Ivrogne", vom Trunkenbold, oder den "vieux amants", den alten Liebenden, szenisch eingerichtet. Beispielsweise mit einem beschleunigenden Sofa beim "Bicyclette". Rosat schiebt es in gelassenem Marathon und damit urkomisch rund um seine beiden Mitspieler.

Der spindeldürre Haagen setzt derweil die musikalisch dramaturgischen Akzente. Der Flügel ist auch für einen Posaunisten nur ein Flügel, dessen Saiten zwar mit schwarzen und weißen Tasten zum Klingen gebracht werden können. Muss aber nicht. Es geht auch per Finger. Und da dem experimentierfreundlichen Haagen das Klavierspiel keine abendfüllende Beschäftigung zu sein scheint, betätigt er gleichzeitig sein sperriges Blasinstrument.

Brels Vorliebe für pittoreske Wortschöpfungen hat das Trio in den Titel des sympathischen Abends gepackt: "Jacques un pour soi". Wie lässt sich das übersetzen? Am besten gar nicht. Denn Jacques spricht sich genauso aus wie chaque. Dann heißt es allerdings jeder. Und aus dem Ganzen wird ein "Jeder für sich", und Jacques bleibt der Einzigartige.

Einzigartig auch die Aussprache der drei andächtigen Brelianer. Für Haagens nasales "rüs ör" gäbe selbst der strengste Gymnasiallehrer in Französisch eine "Eins plus". Wie heißt "Rush hour" auf Französisch? Genau. Alexandra Glanz
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zuletzt aktualisiert am 31.5.2006