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(c) DIE ZEIT 30.04.2003 Nr.19

Fremd im eigenen Fell

Warum der rastlose Theatermacher Armin Petras alias Fritz Kater die Außenseiter liebt

Von Evelyn Finger

Nun gibt es aber neben verkannten Theaterregisseuren auch missverstandene Requisiten. Wenn nach einer Premiere das große Raunen anhebt, ob man denn diese oder jene Szene passend gefunden und ob der jugendliche Held eine gute Figur gemacht habe, dann spielt das inszenatorische Zubehör selten eine Rolle. Auch liest man darüber kaum etwas in den Kritiken. Dies ist umso merkwürdiger, als mit der radikalen Entrümpelung der Bühnen im Laufe der vergangenen 100 Jahre die wenigen verbliebenen Spazierstöcke, Torten, Blumentöpfe doch Gegenstand um so genauerer Betrachtung sein müssten. Das von jüngeren Regisseuren am häufigsten benutzte und von der Kritik am meisten verkannte Kleinrequisit dürfte wohl das Mikrofon sein. Taucht es im Theater auf, steht in der Zeitung vom nächsten Tag unweigerlich das Wort Pop. Im Falle von Armin Petras ist dieses Wort schon oft strapaziert worden, zuletzt nach seiner Inszenierung von Friedrich Hebbels Maria Magdalena am Schauspiel Frankfurt, und hat doch wieder nichts erklärt.

Wozu Hebbel mit Mikro? Damit die Zuschauer merken, dass der Regisseur gemerkt hat, dass wir im Zeitalter der technischen Verstärkbarkeit leben? Dass im integrierten Schaltkreis Mensch-Maschine auch die Intellektuellen eingeschlossen sind? Dass das Denken qua Lärm endlich entsublimiert werden kann? Bei Armin Petras - Jahrgang 1962 und vielleicht der leiseste unter den lauten jungen Regisseuren, der Trübsinnigste unter den Possenreißern, der Rebellischste unter den postrevolutionären Theatermachern und jedenfalls der Produktivste, ein Romantiker in Rock-'n'-Roll-Montur, ein Systemkritiker im Kostüm des Defätisten - bei ihm ist das Mikrofon keine Marotte, sondern Signal eines verzweifelten Verständigungswillens bei gleichzeitiger Gewissheit über die völlige Unmöglichkeit von Verständigung. Das elektronische Sprechen ist der Versuch, nach der Sprachkritik und der Kritik der Sprachkritik noch Worte zu finden, die man sich selbst nicht sofort wieder verbieten muss. Bei Hebbel klang das folgendermaßen: "Gott, was man alles so schwatzt, wenn man etwas auf dem Herzen hat und es nicht herauszubringen weiß." Bei Armin Petras, per Mikrofon, bekommt der Satz die Kraft, den kommunikativen Circulus vitiosus zu sprengen.

Doch das Verfahren der mehrfachen Umwandlung des Vertrauten ins Unvertraute muss sich, auf ein bürgerliches Trauerspiel wie Maria Magdalena angewendet, auch als problematisch erweisen. In Petras' jüngster Regie kann man sehen, wie Entfremdung (als Thema) und Verfremdung (als Technik) sich gegenseitig aushebeln. Wenn man das Schicksal des gefallenen Mädchens als normalen Gang der Dinge begeift, wirkt Weinen wie hysterisches Gekreisch, Duellieren wie ein abgeschmacktes Ritual und Selbstmord wie eine peinliche Übertreibung. Künstliche Blumen, künstliche Dialoge, Platzpatronen: In Maria Magdalena kommt vieles vor, was Petras' Arbeiten auszeichnet, das prinzipiell Ironische, die Tendenz zum Allegorischen, der Einsatz der Popmusik als Bannzauber gegen die Gefühlskälte. "My lonelyness is killing me" - so leichthin muss man Britney Spears erst einmal zitieren. Und doch fehlt das Wesentliche, die Liebe des Demiurgen zu seinen Geschöpfen. Für den Kleinbürger, der höchstens seine Gemütsruhe riskiert, hat Petras weitaus weniger übrig als für den Proleten, der sich selbst aufs Spiel setzt. Ohne Liebe aber keine Einfühlung, und ohne vorherige Einfühlung keine echte Verfremdung.

Dass er das Aristotelische und das Brechtsche gelegentlich zu versöhnen vermag, dass er sich fürs Schicksalhafte und Soziale gleichermaßen interessiert, dass er, Positivismus und Nihilismus hinter sich lassend, einen empfindsamen Sarkasmus anstrebt, darin liegt das Geniale an Armin Petras. In Klassikeradaptionen wie Maria Magdalena oder Kleists Zerbrochenem Krug gelingt es ihm nur ansatzweise, umso mehr beim Inszenieren seiner eigenen Stücke, verfasst unter dem Pseudonym Fritz Kater und beharrlich als Werke eines eigenständigen Autors ausgegeben, als wollte der Mann mit sich selbst nicht verwechselt werden. Vineta (oderwassersucht) nannte er 2001 sein Plattenbau-Melodram, das die in spätkapitalistischer Agonie erstarrten neubundesdeutschen Kleinbürger als Bewohner einer postutopischen Vorhölle zeigte: zwischen Trauer und Zorn, zwischen Fernweh und Heimweh, als hätten sie vor langer Zeit einmal gewusst, wo sie hinwollten, aber könnten sich nun nicht mehr darauf besinnen.

Armin Petras holt die depravierten Figuren des kritischen Volksstücks raus aus der Schmollecke für Erniedrigte und Beleidigte, er zerrt sie aus dem Bahnhofsviertel, aus dem Abrissgebiet Ost ins grelle Licht eines Theaters, das zwischen Sozialdrama, Tragödie, Lehrstück, Zirkus, dadaistischer Performance keinen Unterschied mehr zu machen bereit ist. In dieser merkwürdigen Welt gilt ein frühpensionierter Parteisekretär so viel wie ein entmachteter König, gilt ein aus Mainz ins sachsen-anhaltische Missionsgebiet versetzter Pfarrer so viel wie ein echter Mephistopheles, werden die Wiedergänger aus dem DDR-Musikbetrieb mit fröhlichem Applaus begrüßt ("Und jetzt kommt Reini von Rockhaus!") und kann ein Dutzend Rentnerinnen in Dederonkittelschürzen als antikisierender Chor auftreten.

Den Ort, wo diese Inkarnationen einer aus den Fugen geratenen Gegenwart zueinander finden - mit der vom Ernst der politischen Hintergründe diktierten Würde und doch mit aller Lächerlichkeit, die einer transitorischen Nachwendeexistenz innewohnt - vermag nur ein Anarchist wie Armin Petras zu schaffen. Sterne über Mansfeld heißt das Kater-Stück, das Petras kürzlich am Schauspiel Leipzig in Szene setzte und das den in der DDR so oft bemühten Topos vom Fremdsein im eigenen Land mit der seit Hofmannsthal allgemein gültigen Erfahrung vom Fremdsein im eigenen Leben verknüpft. Armin Petras muss einen ganz persönlichen Zugang zu diesem Thema haben, seine Biografie jedenfalls liest sich wie das Fahrtenbuch eines Flüchtenden: Im Westen geboren, mit sieben Jahren nach Ost-Berlin gekommen, 1988 in den Westen ausgereist, beim Frankfurter TAT engagiert und nach einer Woche rausgeflogen, an den Münchner Kammerspielen engagiert und rausgeflogen, desgleichen in Chemnitz und Frankfurt/Oder, nachher als Regisseur in Leipzig und Kassel gewesen, jetzt Oberspielleiter in Frankfurt am Main.

Zu Hause ist Petras jedoch bei den Underdogs: Egal, in welches Theater man ihm folgt, wird man sie vorfinden, die lädierten Typen, die an den komplizierten Sozialisationsschäden der Postmoderne leiden, doch immer auf eine sympathisch geradlinige Weise kaputt sind. Die Überlebenden des Kosovo-Krieges, die verschwitzten Halbwüchsigen aus der Kleinstadttanzstunde, die Arbeitslosen, die Penner, die Gangster, der gelähmte Parteisekretär, der autistische Volkspolizist, der Versicherungsvertreter, der früher mal Rockmusiker war… Armin Petras kann ihnen auch nicht helfen, aber er kann sie verstehen, am besten vielleicht, wenn sie aus einer zerklüfteten, mit Kulturgeschichte schwer beladenen, von Armut unterhöhlten Gegend wie dem Mansfelder Land kommen: wo die Schornsteine der Fabriken fast alle gesprengt und die stillgelegten Tagebaue geflutet sind, wo die Häuser der Kumpel leer stehen und die verlassenen Schächte langsam einstürzen. Hier liegt über allem ein großer Phantomschmerz, nur zuweilen gelindert von den bitteren Worten jener Dichter, die sich ans Weltende verirrten: Franz Fühmann, Wolfgang Hilbig, Volker Braun, Einar Schleef. In Armin Petras haben die querulatorischen Melancholiker der DDR-Literatur einen würdigen Nachfahren gefunden, boshaft, gotteslästerlich und mitunter so sophistisch wie Heiner Müller, aber viel musikalischer.

"Would you lay with me in a field of stone?", singt Johnny Cash in Sterne über Mansfeld, und wie immer, wenn Armin Petras die Musik richtig laut dreht, ist es, als sollte eine große Wehmut übertönt werden. Ganz zynisch und ganz sentimental, realistisch und surrealistisch kann Armin Petras sein, manchmal erzählt er die Träume seiner Figuren ohne Worte, lässt Pastor und Parteisekretär in simulierter Höllenfahrt eine Abraumhalde hinunterrasen. Manchmal schleppt er eine überdimensionale Stalin-Ikone auf die Bühne, um Gott als Vater aller Albträume zu entlarven. Und dann dirigiert er einen Sprechchor alter Bergarbeiterfrauen auf so einzigartige Weise, dass man fast dankbar ist für die tragischen Umstände, angesichts deren dieser Moment entstehen konnte.

Nun ist Armin Petras mit der Hamburger Inszenierung seines Stückes Zeit zu lieben, Zeit zu sterben zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen. Das ist schade, weil just hier seine Begabung für das nur halb Ausgesprochene, für das Vieldeutige und Fragmentarische nicht richtig zum Tragen kommt. Zeit zu lieben, Zeit zu sterben ist eine leicht geschwätzige Adoleszenzgeschichte, grotesk, dialektisch, aber nicht annähernd so grandios wie Nietzsche in Amerika. Songs from a freezing heart. Darin sampelte Petras aus vertonten Nietzsche-Gedichten und gespenstischen Verliererfiguren (die Art Leute, die aus Versehen vom Stuhl kippen, allein ein Klavier die Treppe runterbugsieren und denen im unpassendsten Moment der Koffer aufklappt) eine Symphonie beiläufiger Verzweiflung. Wie Petras im staubigen Keller des Hamburger Schauspielhauses mit Besen, Bürste, Quetschkommode Musik machen lässt, ist äußerst effektvoll, doch unter der Intensität an der Oberfläche gähnt der Abgrund all dessen, was man über den Menschen sagen müsste, wenn man nicht Zuflucht zum Gesang nehmen könnte. Mit dem Mikrofon stellt Petras jene Distanz her, die Marcuse eine Maske des Trostes genannt hat. Das Tröstliche aber ist hier immer eine Maske der Distanz.

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zuletzt aktualisiert am 26.6.2006