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Frankfurter Rundschau vom 2.10.2002

Nebel des Schauens

Ein und derselbe Armin Petras zeigt zwei verwandte Stücke an den beiden grundverschiedenen Hamburger Theatern

Armin Petras ist ein Freund des Nebels. Wer seine beiden jüngsten Regie-Arbeiten in Hamburg besucht, die Uraufführungen eines neuen Fritz-Kater-Stückes im Thalia in der Gaußstraße und eines Nietzsche-Liederabends im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses, sieht zunächst einmal gar nichts. Schemenhafte Figuren tauchen auf, ein Eimer, in den es tropft, nicht entzifferbar bleibt einiges. Eine Geduldsprobe zum Eintritt in Traumwelten, die aus Zitat und Momentaufnahme bestehen.

Armin Petras umgibt auch sich selbst gerne mit Nebel. Hartnäckig, fast kindisch beharrt der Hausregisseur vom Schauspiel Frankfurt darauf, ein anderer zu sein als jener Fritz Kater, der für ihn schreibt. Obwohl sogar Theater heute ihn als ein und denselben outete. Das Thalia Theater unterstützt das, indem es Fritz Kater, Petras papiernen Doppelgänger und kleinen Bruder von Tucholskys Pseudonymen Theobald Tiger und Peter Panter, mit einer eigenen Biografie ausstattet. Sie ähnelt der von Petras verdächtig. Allerdings verläuft diese Ostbiographie so, wie wenn mit diesem Leben nach bürgerlichen Maßstäben alles gut gegangen wäre.

Petras, der als Sechsjähriger mit seinen Eltern nach Ostberlin übersiedelte und früh den Vater verlor, reiste vor der Wende aus, als Unruhestifter von der Stasi belauert, die Freunde im Gefängnis, hatte weder sein Regie-Studium an der Ernst-Busch-Schule noch eine Facharbeiter-Ausbildung abgeschlossen, inszenierte acht Jahre an diversen Ost- und Westbühnen, wurde 1996 Oberspielleiter in Nordhausen. 1999 Schauspieldirektor am Staatstheater Kassel, kam 2001 nach Frankfurt am Main. "Ich bin bis heute ungelernt", sagt der alerte Enddreißiger.

Von der affirmativen Subversion, die darin anklingt, und der eigenen Biografie findet sich vieles in zeit zu lieben zeit zu sterben, dem zweiten Teil einer Kater-Trilogie. Im ersten Fight City. Vineta setzt sich Kater mit der Heimat nach der Wende auseinander, jetzt folgt die Rückschau: Erwachsenwerden in der DDR. Petras ist in diesen beiden Kater-Inszenierungen zu Hochform aufgelaufen, und mit ihm ein Team von großartigen Schauspielern: Leila Abdullah, Fritzi Haberlandt, Peter Jordan, Peter Kurth, Hans Löw, Milan Peschel, Verena Reichardt.

Wenn sich der Nebel über dem dreigeteilten Stück lichtet und die Uniform sichtbar wird, die von der Decke baumelt, beginnen sie, als Chor im Halbrund aufgebaut, zu erzählen. Von Simones Brüsten, dem Schulweg über den Straußberger Platz, dem vergessenen Pass, David Bowie und den Sex Pistols, der Abtreibung in Bulgarien, Apocalypse Now in Budapest, dem Dünnschiß am Fenster im Zug noch in Warschau, vom Fußball spielen und Nacktschwimmen. Protzige kleine Teenager-Geschichten, die überschattet sind von körperlicher Gier und verstohlenem Hunger nach kapitalistischen Kulturprodukten, von dem fatalen Empfinden, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. "Schulmädchenreport" nennt Petras diesen mehrstimmig vorgetragenenen Prosatext. Es ist ein ironischer Versuch, den Popliteraten Brinkmann auf die andere Seite der Mauer zu übertragen. Irritiert bemerkt man die Inkongruenz der Ähnlichkeit.

Im zweiten Teil sehen wir kommentierte Filmszenen der achtziger Jahre. Die Brüder Ralf und Paul, spöttisch als Kasperlefiguren in Frottee-Anzügen und Papierhüten eingeführt, wachsen vaterlos auf. Der spätere Liebhaber der Mutter und Fluchthelfer des Vaters war zwölf Jahre "in der Reinigung". Auf seine nackte Brust ist ein Knastgitter gemalt. "Wer fragt, wird selber ausgefragt", lehrt er die Jungen. Geschlechtsverkehr: Zum rhythmischen Stöhnen des Paares schlägt die Mutter mit einem Teppichklopfer auf einen Kasten, der hochkant auf der subtilen Bühne von Bernd Schneider steht. Tanzstunde: Der eine Bruder liebt das Mädchen, das in den anderen verknallt ist. Schule: Die neue Lehrerin, die den verschwundenen Klassenlehrer ersetzt, gibt ihnen das Aufsatzthema "Wie lebe ich und warum". Wer vom 10-Meter-Turm springt, ist plötzlich ein Held. Cola ist die Superdroge. Das Telefon ist ein Bügeleisen. Ein wilder Traum. Wer aufwacht, verliert seine Integrität.

Im dritten Teil seiner Abhandlung über Liebe und Begehren lässt Petras zwei Protagonisten von heute erzählen. Aber nicht spielen. Ein Mann aus dem Osten (Peschel) und eine Frau (Haberlandt) aus dem Westen berichten im Zeitraffer. Ein beleuchtetes Fenster gibt es mit hochhackigen Schuhen. Sie kaufen ein. er trinkt Blut aus ihrem Schuh. Sie vollführen Koitusbewegungen auf dem Boden, die sich nicht ergänzen. Die Liebe erlischt, der Smooth Jazz hakt. Sie liebt einen anderen Mann, der sie nicht liebt.

Die Quintessenz des Abends ergibt sich aus der zugespitzten Vereinzelung der Figuren: Liebe kann nur in einer Gruppe funktionieren, in der sie ein Echo findet. Petras liefert aber mehr: Ein Emotionskaleidoskop von Sozialisationsschäden aus dem Osten, einen Querschnitt durch die Befindlichkeit seiner Generation und deren gesteigerte Isolation, eine bizarre, witzige und trostlose Annäherung an die Geschichte, die seine eigene sein könnte. Freilich erliegt Petras Theatermoden, dem Schreisprechen von Pollesch etwa, oder der Absage an Bühnenkonventionen wie Dialog und Handlung. Doch das ändert nichts an der perfiden Präzision seiner Zeichnung von Verletzungen, Einsamkeit und unerfüllbarer Sehnsucht.

Die durchdringen auch den Nebel im Malersaal. In seinem Lieberabend Nietzsche in Amerika. Songs from a Freezing Heart, dem zweiten, den er hier mit den Musikern Olaf Casimir und Philipp Haagen sowie den Schauspielern Nicolas Rosat und Alexander Simon gestaltete, übertrifft sich Petras außerdem geradezu an Ironie. In fröhlichem Todesmut vereinigen sich Kulturikonen wie Johnny Cash und Tom Waits mit Wiedergängern von Dracula und Heiner Müller. Ein Fest für die Schauspieler: Simon und Rosat singen und chargieren als zwei gestrandete Osteuropäer in einer kaputten, von Staub und Spinnweben überzogenen Bar. Hinter den Wänden lockt marthalerhaft eine ersterbend hauchende Frauenstimme, vom Bühnenhimmel bröckelt der Putz. "So schwer mein Herz, so trüb die Zeit..." Nietzsches Gedichte von Entsagung, Todesahnung, Glückssuche und verlorener Jugend in der genialen, mit Tuba, Klavier und Bass die Popstile streifenden Vertonung der beiden Musiker scheinen wie gemacht für dieses romantische, in aller Albernheit ernste und schlüssige Szenario.
Frauke Hartmann
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zuletzt aktualisiert am 26.6.2006