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Süddeutsche Zeitung vom 26.2.2002


Abgesoffen, ausgeschenkt

Tomaz Pandurs "Göttliche Komödie" an Hamburgs Thalia Theater

Shakespeare hat hier nichts verloren. Die ganze Welt ist nicht Bühne, sondern Wasser; ist es wieder. Denn Tomaz Pandur, Regisseur und Bildverzauberer aus dem Slowenischen, beendet seine szenische Vision von Dantes "Göttlicher Komödie" in demselben Feuchtbiotop, in dem das alles vergangene Spielzeit begonnen hat. Auf das "Inferno" folgen nun "Purgatorium" und "Paradies", einst für zwei Abende geplant, nun einsichtsvoll zum Zweiakter gerafft. Der erste und dann auch bleibende Eindruck: Die Bilder gleichen sich sehr. Wieder hat sich in Hamburgs Thalia Theater der Bühnenboden in ein riesiges, raumdeckendes Bassin verwandelt, in dem nun nicht mehr 30 000, sondern, weil Mythen ja wachsen, 36 000 Liter Wasser den Verdammten, den Engeln und den Erlösungsbedürftigen ein Spielfeld schaffen, auf und in dem sie bedeutungsvoll waten und stolpern, fast versinken und mit kosmisch feuchten Klamotten sich wieder aufraffen, folkloristisch plantschen und die weißen Umhängtücher - auch Engel haben Waschtag - noch einmal durchspülen und aus wringen können.

Diese Engel, die da hoch oben auf der schmalen Brücke stehen und so eine humane Verbindung von der linken zur rechten Hintergrundwand aus Wellblech herstellen - sie haben glatzköpfig, mit bloßem Oberkörper über weißschlitternden Beinkleidern im "Inferno" als Verdammte gedient. Nun haben sie sich zu Engeln gemausert, stoßen mal heisere Wutschreie über den Zustand von Kunst und Kosmos aus, finden aber, wenn Musik ertönt, zu einer Choreografie, die ritualverdächtig ist. Droben auf der Brücke winken und hüpfen sie, klammern sich am Geländer fest, heben das weiße Röckchen und pissen hinab in die dunkle Flut - synchron, wie von Zauberhand geführt.

Fürs Musikalische ist wieder Goran Brecovic verantwortlich, der auch in diesem Jahr die bewundernswert kompetenten Multi-Instrumentalisten Fritz Feger, Philipp Haagen und Michael Verhovec als Interpreten dabei hat. Sie erspielen sich den klingenden Kosmos einer sehr südosteuropäisch grundierten Weltmusik, in der balkaneske Tänze neben kirchentonartlichen Melismen, ja Muezzinrufen Platz haben.

Während es - wir sind ja noch im Purgatorium - die Fast-Schon-Engel nach oben zieht, erscheinen unten, wo es finster und feucht ist, die ersten Menschen: Dietmar König als Vergil, Thomas Schmauser als Dante - der Führer und der ihm Folgende, der Sichere und der Suchende. Viel ist von Melancholie die Rede. Die Glatzköpfigen gesellen sich zu den Wanderern, sprechen Hochherziges, auch Hochtrabendes: über die Kreativität, die Luft, das Feuer und natürlich das Wasser. Fesselnde Bilder können aber nicht vergessen machen, dass das geistige Band, durch das diese hochinspirierten Bilderfindungen zusammengehalten wird, allzu oft im mystischen Dunkel verschwindet und da zu zerreißen droht.

Urworte, nicht immer orphisch, hören wir da. Etwa: "Ich lebe in meinem Namen wie ein Ruderer in seinem Boot", oder: "Die Wahrheit ist, dass es keine Reise gibt." Solche Anmerkungen verführen zur Meditation, lassen aber auch an die Tage denken, in denen man als Unterprimaner tibetanische Spruchweisheiten ersann. Ein erstes Aufatmen geht durch den Raum, als die Hintergrundwand sich teilt und mit dem weißblendenden Licht Fritzi Haberland zu uns kommt. Ungerührt schreitet sie durch das Wasser nach vorn, ist ganz Konzentration in ihrer weißen Robe von raffiniert vorgetäuschter Schlichtheit und wird zum Labsal, weil sie so viel Verstiegenes durch eine wohltuende Prise common sense erdet.

Das "Paradies" kann aber auch sie nicht retten. Das heimelt insofern an, weil man nun nicht mehr durch die Fluten robben muss, sondern im Wasser stehen darf. Ein Engel, im Elysium jetzt Kellner, stellt zwölf Gläser auf einen langen Tisch. Abendmahl? Symbolik? Denkste! Viele Kellner bringen viele Gläser. In denen ist mal mehr, mal weniger Wasser, und wenn man die Ränder reibt, Melodien und Harmonien aufwimmern lässt, ergibt das eine Mischung aus elegischer Zukunftsmusik und entrückter Pastorale. Sphärenmusik.

Das war's denn auch. Das Paradies ist abgesoffen. Das Publikum sammelte sich langsam und mir schoss mal wieder durchs Hirn, dass Ernst Wendt sowas vor Jahren "Einschüchterungskunst" genannt hat.

WERNER BURKHARDT
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zuletzt aktualisiert am 8.12.2005